Ich öffne
die Augen.
Um mich
herum erstrecken sich blütenweiße Wände.
Ich versinke in ihrem Weiß.
Meine
Pupillen ziehen sich vor der plötzlichen Helligkeit zusammen.
Ich atme
die frische, reine Luft ein und fühle mich einen Moment annähernd entspannt.
Und dann
fällt es mir wieder ein.
Schlagartig
überspülen mich die Erinnerungen, reißen meine Gedanken mit in einem Strudel,
pressen den Sauerstoff aus meinen Lungen.
Mein Herz
rast in meiner Brust, mein Atmen geht stoßweise, mein Gehirn ist unfähig einen klaren
Gedanken zu fassen.
Ich sehe es
vor mir.
Gleißendes
Licht, einen Schrei, lautes Quietschen und dann einen Knall.
Einen Knall
so laut, dass mein Trommelfell zu bersten scheint und ich für einen Moment taub
bin.
Ein Schrei,
so gequält, dass sich die Gänsehaut auf meinem gesamten Körper ausbreitet und meine Muskeln erstarren lässt.
Plötzlich
sehe ich wieder die blütenweißen Wände vor mir.
Das Weiß
blendet mich. Ich kneife die Augen zusammen.
Als wolle
sie mich schützen, umschlingt mich die Schwärze und nimmt mich mit in ihre
Abgründe des Vergessens.
Viel zu
schnell entlässt sie mich aus ihrem Griff.
Meine
Gefühle driften wieder an die Oberfläche und das Bewusstsein zurück in mein
Gehirn.
Diesmal
werde ich nicht von der Reinheit des Raumes fasziniert.
Ich habe
diese Szene in meinem Kopf, sie spielt sich wieder und wieder selber ab und ich
kann nichts dagegen tun.
Ich liege
in einem Bett, unfähig mich zu bewegen und werde von Zitteranfällen
geschüttelt.
Die Tür
geht auf.
Ein Teil von mir ist verärgert, weil sie mich aus der sich endlos
wiederholenden Szene reißt.
Ein Teil
von mir ist dankbar, weil ich nun nicht mehr mitansehen muss, was geschehen
ist.
Ein Teil
von mir hat Angst, weil ich absolut keine Ahnung habe, wo ich mich gerade
befinde und was überhaupt wirklich passiert ist.
Ich höre Schritte, traue mich aber nicht den Kopf zu drehen.
Vor mir
taucht ein groß gewachsener Mann in einem weißen Kittel auf. Er hat graue
Haare, trägt eine ziemlich hässliche Brille, jedoch lächelt er mich freundlich
an.
Nein.
Nicht freundlich.
Mitleidig.
„Hallo
Lilly. Wie geht es dir? Es freut mich, dass du wieder bei uns bist. Ich bin Dr.
James.“
„Ich…“ Meine Stimme hört sich kratzig an, wie ein schlecht geöltes Scharnier.
„Ich… was
ist passiert?“ Ein Schatten huscht über das Gesicht des freundlichen Doktors.
„Nun… weißt
du, wo du dich momentan befindest?“ Einen Moment lang möchte ich ihn fragen, ob
er mich für dumm hält, aber dann deke ich über seine Frage nach.
Denn ich
habe wirklich keine Ahnung, wo ich mich gerade befinde und was ich hier mache.
Und wie ich hierher gekommen bin.
Also
schüttele ich nru den Kopf.
„Nun. Du
hattest einen Unfall.“
Quietschen, Licht, Schrei, Knall.
„Du warst
mit deinem Freund Luke unterwegs.“
Quietschen, Licht, Schrei, Knall.
„Ihr seid
über eine einsame Landstraße gefahren, die Fahrbahn war nass und euch ist ein
Auto entgegengekommen.“
Quietschen,
Licht, Schrei, Knall.
„Der Fahrer
des anderen Wagens war betrunken, er hat nicht auf die Fahrbahn geachtet und
ist auf eure Spur rübergezogen.“
Quietschen,
Licht, Schrei, Knall!
„Dein
Freund hat versucht auszuweichen und dabei… Das Auto hat einen Baum gerammt.“
QUIETSCHEN, LICHT, SCHREI, KNALL!
„Der Fahrer
des anderen Fahrzeugs ist einfach weitergefahren. Er hat Fahrerflucht begangen.
Ein LKW-Fahrer hat euch gefunden und sofort die Polizei gerufen. Du bist hier
in der Waldstein-Klinik. Keine Sorge, dir geht es den Umständen entsprechend,
du lagest 2 Tage im Koma, allerdings scheint es deinem Körper nun besser zu
gehen. Keine inneren Verletzungen, nur ein gebrochener Arm. Alles im grünen
Bereich.“
Er strahlt mich an, als hätte er mir gerade verkündet, dass ich im Lotto
gewonnen habe.
„Luke.“,
krächze ich nur.
Schon wieder verdüstert sich sein Gesicht.
Nein.
Nein, das
darf nicht sein.
„Lilly… Ich
muss dir leider sagen, dass Luke den Unfall nicht überlebt hat. Er ist
gestorben bevor ihr gefunden worden seid. Es tut mir sehr leid.“
Schreie.
Irgendwo in
der Nähe schreit jemand.
Oh.
Nein.
Falsch.
Das bin
ich.
Ich
schreie.
Ich
zittere, mein Herz rast im einen Moment und setzt im nächsten aus.
Ich
schreie, aus meinen Stimmbändern kommt allerdings kein Ton.
Ich weine,
aber meine Augen sind zu ausgetrocknet.
Ich schnappe mir das, was ich in die Hände bekomme und werfe es nach dem Arzt.
Es ist eine
Blumenvase.
Er duckt
sich.
Schade.
„Lilly, ich
kann verstehen, dass die Situation für dich gerade etwas schwierig ist, aber…“
Dann ist
meine Stimme wieder da.
Ich kann
mich auf mich verlassen, wenn’s drauf ankommt.
„SCHWIERIG!?! Eine Klausur zu schreiben ist
schwierig. Eine Kastraktion bei einer Katze zu machen ist schwierig. Den Fuß
hinter den Kopf zu bekommen ist schwierig.
ABER DAS
IST DEFINTIV NICHT SCHWIERIG!“
Ich sacke
zusammen, klammere mich an der weißen Eisenumrandung meines Bettes fest und
schluchze.
Es kommen
keine Tränen.
Ich bin wie
die Wüste.
Der Arzt
steht immer noch da.
In seinem
blütenweißen Kittel.
Vor der
blütenweißen Wand.
Vor mir dem
Mädchen in dem blütenweißen Bett mit der blütenweißen Bettwäsche.
Der Arzt in
dem blütenweißen Kittel steht vor mir.
Dem vor
Trauer, Kummer, Schmerz und Hass schwarzen Mädchen.
Er bleibt
noch einen Augenblick stehen, dann verlässt er mein Zimmer.
Sobald er
raus ist, bleibe ich still liegen.
Wenn ich
lange genug einfach nur vor mich hinstarre, kann ich vergessen, was er gerade
gesagt hat. Ich weiß das.
Ich kann
das.
Ich kann
mich auf mich verlassen, wenn’s drauf ankommt.
„Upps entschuldigung.“ Der Junge,
gegen den ich gerade gerannt bin, dreht sich zu mir um. „Tut mir leid, ich
wollte dir nicht im Weg stehen.“ „Ach macht doch nichts. Ich hab dich doch
umgerannt. Tut mir leid.“ Ich lächle ihn an.
Er sieht gut aus. Ziemlich gut.
Er hat blonde, verwuschelte Haare,
braune, strahlende Augen und einen ziemlich durchtrainierten Körper.
„Darf ich dich als Entschuldigung auf einen Frappucino einladen?“
Und er kennt das Wort Frappucino.
„Äh… okay klar. Ich schließe eben
meine Sachen in den Spind bei der Bibliothek, okay?“ „Klar. Warte, ich begleite
dich.“ „Okay. Gerne. Ich bin übrigens
Lilly.“ „Oh Gott, wo bleiben meine guten Manieren?“ Er grinst mich an. „Ich bin
Luke.“
„Schön dich kennen zu lernen.“Ich
grinse zurück. „Wenn auch nicht ganz
freiwillig, ne?“ „Wer macht heute schon irgendwas freiwillig!?!“
Wir sehen uns an und gehen dann
einträchtig nebeneinander her.
Die Bibliothek kommt in Sicht und
ich schließe schnell meine Sachen ein.
„Okay, und was jetzt?“, frage ich
und sehe ihm in die Augen.
„Jetzt zeige ich dir, wo man den
besten Frapuccino der Stadt herbekommt.“
Er zwinkert mir zu und dreht sich um.
Mein Magen macht einen Hüpfer.
Ich beeile mich hinter ihm
herzukommen.
Die Sonne scheint und einen Moment
lang muss ich die Augen zukneifen.
Ich bin geblendet von ihrem
strahlenden Licht.
Mein Herz
pocht.
Ich kann es
hören.
Es pocht
wild und ungleichmäßig.
Ich möchte
es aus meiner Brust reißen und verbrennen.
Und dabei wie eine Hexe ums Feuer tanzen.
Ich möchte
es in Stücke hacken, bis ich nichts mehr fühlen kann.
Und dabei
mit Genugtuung zusehen.
Ich möchte
zerquetschen, bis es sich so fühlt wie ich jetzt.
Und dabei
fragen, wieso es überhaupt etwas fühlt.
Denn alles
Gute, was man fühlt, wird irgendwann zu etwas schlechtem.
Es wird zu
etwas, das einen auffrisst, einen nicht mehr loslässt, das einen zerbricht und
in 10000 Scherben auf der Welt zurücklässt.
Ohne ein weiteres Wort.
Ohne ein
einziges, leise Wort.
Ich kneife
die Augen zu und hoffe, dass ich wieder einschlafe.
Dass ich wieder eintauche in die Welt meiner Erinnerungen, in der es keine
bösen Gedanken gibt.
Aber es
klappt nicht.
Ich höre
wie die Tür aufgeht.
„Lilly?“
Ich erkenne
die Stimme meiner Mutter. Ich höre, wie sie sich einen Stuhl heranzieht und
sich neben mich setzt.
„Lilly,
bist du wach?“
Es bringt
nichts die Augen vor der Welt zu verschließen.
Doch tut es
wohl.
Es erlöst einen von seinen Pflichten und hilft, einfach mal abzuschalten.
Ich öffne
die Augen nicht.
Nach ca. 10 Minuten, vielleicht länger, vielleicht kürzer, steht sie auf und
geht.
Ohne ein
weiteres Wort.
Ohne ein
einziges, leises Wort.
Und da wird
mir bewusst, dass ich nun alleine bin auf der Welt.
Ich habe
meine Eltern, aber sie sind nicht wie ich.
Ich habe meine
Freunde, aber sie empfinden und denken nicht wie ich.
Ich hatte
Luke, aber er will mich nicht mehr.
Er ist vor
mir geflohen, ausgerechnet dorthin, wo ich ihm so schnell nicht hinterher
kommen kann.
Er hatte
die Nase voll von mir.
Er wollte mich nicht mehr.
Er ist
gegangen.
Ohne ein
weiteres Wort.
Ohne ein
einziges, leises Wort.
Könnt ihr mir eure wirklich ernsthafte Meinung sagen? :) Danke!