Mittwoch, 16. Mai 2012

Ich öffne meine Augen - Teil 1


Ich öffne die Augen.
Um mich herum erstrecken sich blütenweiße Wände.
Ich versinke in ihrem Weiß.
Meine Pupillen ziehen sich vor der plötzlichen Helligkeit zusammen.
Ich atme die frische, reine Luft ein und fühle mich einen Moment annähernd entspannt.
Und dann fällt es mir wieder ein.
Schlagartig überspülen mich die Erinnerungen, reißen meine Gedanken mit in einem Strudel, pressen den Sauerstoff aus meinen Lungen.
Mein Herz rast in meiner Brust, mein Atmen geht stoßweise, mein Gehirn ist unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
Ich sehe es vor mir.
Gleißendes Licht, einen Schrei, lautes Quietschen und dann einen Knall.
Einen Knall so laut, dass mein Trommelfell zu bersten scheint und ich für einen Moment taub bin.
Ein Schrei, so gequält, dass sich die Gänsehaut auf meinem gesamten Körper ausbreitet  und meine Muskeln erstarren lässt.
Plötzlich sehe ich wieder die blütenweißen Wände vor mir.
Das Weiß blendet mich. Ich kneife die Augen zusammen.
Als wolle sie mich schützen, umschlingt mich die Schwärze und nimmt mich mit in ihre Abgründe des Vergessens.

Viel zu schnell entlässt sie mich aus ihrem Griff.
Meine Gefühle driften wieder an die Oberfläche und das Bewusstsein zurück in mein Gehirn.
Diesmal werde ich nicht von der Reinheit des Raumes fasziniert.
Ich habe diese Szene in meinem Kopf, sie spielt sich wieder und wieder selber ab und ich kann nichts dagegen tun.
Ich liege in einem Bett, unfähig mich zu bewegen und werde von Zitteranfällen geschüttelt.
Die Tür geht auf.
Ein Teil von mir ist verärgert, weil sie mich aus der sich endlos wiederholenden Szene reißt.
Ein Teil von mir ist dankbar, weil ich nun nicht mehr mitansehen muss, was geschehen ist.
Ein Teil von mir hat Angst, weil ich absolut keine Ahnung habe, wo ich mich gerade befinde und was überhaupt wirklich passiert ist.
Ich höre Schritte, traue mich aber nicht den Kopf zu drehen.
Vor mir taucht ein groß gewachsener Mann in einem weißen Kittel auf. Er hat graue Haare, trägt eine ziemlich hässliche Brille, jedoch lächelt er mich freundlich an.
Nein.
Nicht freundlich.
Mitleidig.
„Hallo Lilly. Wie geht es dir? Es freut mich, dass du wieder bei uns bist. Ich bin Dr. James.“
„Ich…“ Meine Stimme hört sich kratzig an, wie ein schlecht geöltes Scharnier.
„Ich… was ist passiert?“ Ein Schatten huscht über das Gesicht des freundlichen Doktors.
„Nun… weißt du, wo du dich momentan befindest?“ Einen Moment lang möchte ich ihn fragen, ob er mich für dumm hält, aber dann deke ich über seine Frage nach.
Denn ich habe wirklich keine Ahnung, wo ich mich gerade befinde und was ich hier mache.
Und wie ich hierher gekommen bin.
Also schüttele ich nru den Kopf.
„Nun. Du hattest einen Unfall.“
Quietschen, Licht, Schrei, Knall.
„Du warst mit deinem Freund Luke unterwegs.“
Quietschen, Licht, Schrei, Knall.
„Ihr seid über eine einsame Landstraße gefahren, die Fahrbahn war nass und euch ist ein Auto entgegengekommen.“
Quietschen, Licht, Schrei, Knall.
„Der Fahrer des anderen Wagens war betrunken, er hat nicht auf die Fahrbahn geachtet und ist auf eure Spur rübergezogen.“
Quietschen, Licht, Schrei, Knall!
„Dein Freund hat versucht auszuweichen und dabei… Das Auto hat einen Baum gerammt.“
QUIETSCHEN, LICHT, SCHREI, KNALL!
„Der Fahrer des anderen Fahrzeugs ist einfach weitergefahren. Er hat Fahrerflucht begangen. Ein LKW-Fahrer hat euch gefunden und sofort die Polizei gerufen. Du bist hier in der Waldstein-Klinik. Keine Sorge, dir geht es den Umständen entsprechend, du lagest 2 Tage im Koma, allerdings scheint es deinem Körper nun besser zu gehen. Keine inneren Verletzungen, nur ein gebrochener Arm. Alles im grünen Bereich.“
Er strahlt mich an, als hätte er mir gerade verkündet, dass ich im Lotto gewonnen habe.
„Luke.“, krächze ich nur.
Schon wieder verdüstert sich sein Gesicht.
Nein.
Nein, das darf nicht sein.
„Lilly… Ich muss dir leider sagen, dass Luke den Unfall nicht überlebt hat. Er ist gestorben bevor ihr gefunden worden seid. Es tut mir sehr leid.“
Schreie.
Irgendwo in der Nähe schreit jemand.
Oh.
Nein.
Falsch.
Das bin ich.
Ich schreie.
Ich zittere, mein Herz rast im einen Moment und setzt im nächsten aus.
Ich schreie, aus meinen Stimmbändern kommt allerdings kein Ton.
Ich weine, aber meine Augen sind zu ausgetrocknet.
Ich schnappe mir das, was ich in die Hände bekomme und werfe es nach dem Arzt.
Es ist eine Blumenvase.
Er duckt sich.
Schade.
„Lilly, ich kann verstehen, dass die Situation für dich gerade etwas schwierig ist, aber…“
Dann ist meine Stimme wieder da.
Ich kann mich auf mich verlassen, wenn’s drauf ankommt.
 „SCHWIERIG!?! Eine Klausur zu schreiben ist schwierig. Eine Kastraktion bei einer Katze zu machen ist schwierig. Den Fuß hinter den Kopf zu bekommen ist schwierig.
ABER DAS IST DEFINTIV NICHT SCHWIERIG!“
Ich sacke zusammen, klammere mich an der weißen Eisenumrandung meines Bettes fest und schluchze.
Es kommen keine Tränen.
Ich bin wie die Wüste.
Der Arzt steht immer noch da.
In seinem blütenweißen Kittel.
Vor der blütenweißen Wand.
Vor mir dem Mädchen in dem blütenweißen Bett mit der blütenweißen Bettwäsche.
Der Arzt in dem blütenweißen Kittel steht vor mir.
Dem vor Trauer, Kummer, Schmerz und Hass schwarzen Mädchen.
Er bleibt noch einen Augenblick stehen, dann verlässt er mein Zimmer.
Sobald er raus ist, bleibe ich still liegen.
Wenn ich lange genug einfach nur vor mich hinstarre, kann ich vergessen, was er gerade gesagt hat. Ich weiß das.
Ich kann das.
Ich kann mich auf mich verlassen, wenn’s drauf ankommt.

„Upps entschuldigung.“ Der Junge, gegen den ich gerade gerannt bin, dreht sich zu mir um. „Tut mir leid, ich wollte dir nicht im Weg stehen.“ „Ach macht doch nichts. Ich hab dich doch umgerannt. Tut mir leid.“ Ich lächle ihn an.
Er sieht gut aus. Ziemlich gut.
Er hat blonde, verwuschelte Haare, braune, strahlende Augen und einen ziemlich durchtrainierten Körper.
„Darf ich dich als Entschuldigung auf einen Frappucino einladen?“
Und er kennt das Wort Frappucino.
„Äh… okay klar. Ich schließe eben meine Sachen in den Spind bei der Bibliothek, okay?“ „Klar. Warte, ich begleite dich.“ „Okay.  Gerne. Ich bin übrigens Lilly.“ „Oh Gott, wo bleiben meine guten Manieren?“ Er grinst mich an. „Ich bin Luke.“
„Schön dich kennen zu lernen.“Ich grinse zurück.  „Wenn auch nicht ganz freiwillig, ne?“ „Wer macht heute schon irgendwas freiwillig!?!“
Wir sehen uns an und gehen dann einträchtig nebeneinander her.
Die Bibliothek kommt in Sicht und ich schließe schnell meine Sachen ein.
„Okay, und was jetzt?“, frage ich und sehe ihm in die Augen.
„Jetzt zeige ich dir, wo man den besten Frapuccino der Stadt herbekommt.“
Er zwinkert mir zu und dreht sich um.
Mein Magen macht einen Hüpfer.
Ich beeile mich hinter ihm herzukommen.
Die Sonne scheint und einen Moment lang muss ich die Augen zukneifen.
Ich bin geblendet von ihrem strahlenden Licht.

Mein Herz pocht.
Ich kann es hören.
Es pocht wild und ungleichmäßig.
Ich möchte es aus meiner Brust reißen und verbrennen.
Und dabei wie eine Hexe ums Feuer tanzen.
Ich möchte es in Stücke hacken, bis ich nichts mehr fühlen kann.
Und dabei mit Genugtuung zusehen.
Ich möchte zerquetschen, bis es sich so fühlt wie ich jetzt.
Und dabei fragen, wieso es überhaupt etwas fühlt.
Denn alles Gute, was man fühlt, wird irgendwann zu etwas schlechtem.
Es wird zu etwas, das einen auffrisst, einen nicht mehr loslässt, das einen zerbricht und in 10000 Scherben auf der Welt zurücklässt.
Ohne ein weiteres Wort.
Ohne ein einziges, leise Wort.
Ich kneife die Augen zu und hoffe, dass ich wieder einschlafe.
Dass ich wieder eintauche in die Welt meiner Erinnerungen, in der es keine bösen Gedanken gibt.
Aber es klappt nicht.
Ich höre wie die Tür aufgeht.
„Lilly?“
Ich erkenne die Stimme meiner Mutter. Ich höre, wie sie sich einen Stuhl heranzieht und sich neben mich setzt.
„Lilly, bist du wach?“
Es bringt nichts die Augen vor der Welt zu verschließen.
Doch tut es wohl.
Es erlöst einen von seinen Pflichten und hilft, einfach mal abzuschalten.
Ich öffne die Augen nicht.
Nach ca. 10 Minuten, vielleicht länger, vielleicht kürzer, steht sie auf und geht.
Ohne ein weiteres Wort.
Ohne ein einziges, leises Wort.
Und da wird mir bewusst, dass ich nun alleine bin auf der Welt.
Ich habe meine Eltern, aber sie sind nicht wie ich.
Ich habe meine Freunde, aber sie empfinden und denken nicht wie ich.
Ich hatte Luke, aber er will mich nicht mehr.
Er ist vor mir geflohen, ausgerechnet dorthin, wo ich ihm so schnell nicht hinterher kommen kann.
Er hatte die Nase voll von mir.
Er wollte mich nicht mehr.
Er ist gegangen.
Ohne ein weiteres Wort.
Ohne ein einziges, leises Wort.



Könnt ihr mir eure wirklich ernsthafte Meinung sagen? :) Danke! 

4 Kommentare:

  1. Du kennst meine Meinung ja dazu ;)
    Einfach genial!
    Ich mach jetzt mal heftig Werbung dafür :D
    <3

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  2. WOW. Das ist sooooooooooooooooooooooooooooo toll geworden!!!!!!!!!! MEEEEEEEEEEHR MEEEEEEEEEEEEHR!!!!!!!!!!! <33333333333333333

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    1. Danke! *-* Oha, es freut mich so, dass es dir gefällt!!! Oo You made my day <33

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